Das feine Gespür der Eskimos für Schnee
Language Myth Busting – Sprachmythen und was dahinter steckt
In dieser Reihe erfährst du, was hinter den populärsten Sprachmythen steckt.
Teil 1: Was ist dran an der verbreiteten Weisheit, dass die Inuit so viele Wörter für Schnee kennen? Und: Welche Sprache die wahre Nr.1 auf diesem Gebiet ist.
Es war in der zwölften Klasse, als mir eine gute Freundin eine unglaubliche Geschichte erzählte, die vor einigen Jahren an unserer Schule passiert war. Deutsch, Abiturprüfung – Die Frage lautet: “Was ist Mut?”. Ein Schüler schreibt als Antwort einen einzigen Satz: “Das ist Mut!” – und bekommt dafür die volle Punktzahl. Ich war ausgesprochen beeindruckt von dieser Geschichte; umso enttäuschter war ich, als ich Jahre später die Wahrheit herausfand: Es handelt sich um eine urbane Legende, die sich Schüler wahrscheinlich heute noch gern weiter erzählen.
Diese Geschichten (und die Bereitschaft der Menschen ihnen glauben zu schenken) faszinieren mich bis heute. Natürlich gibt es sie auch im Bereich der Sprache – wenngleich sie nicht ganz so spektakulär daherkommen wie die Spinne in der Yuccapalme oder eine in der Mikrowelle explodierende Katze.
Der Sprachmythos, dem ich heute auf den Grund gehen möchte, ist ein wahrer Klassiker. Er geht vermutlich auf den Linguisten Benjamin Whorf und auf seine Theorie der „sprachlichen Relativität“ zurück – Diese Theorie besagt, dass die Struktur unserer Sprache bestimmt, wie wir die Welt erfahren und über sie denken. Um diese Theorie zu illustrieren, führt Whorf die zahlreichen Wörter an, die die Inuit angeblich für Schnee kennen; je nach Überlieferung identifiziert der Linguist drei bis sieben Wortstämme. Daraus entwickelt sich im Laufe der Zeit die Behauptung, Eskimos besäßen dutzende, ja sogar hunderte Wörter für Schnee. Warum die Zahl derart angestiegen ist, weiß niemand – einen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt es jedenfalls nicht.
Zunächst einmal gibt es eine Vielzahl von Sprachgemeinschaften, die am Nordpolarkreis bestehen. Die zwei größten Gruppen sind Yupik (Alaska, Sibirien) und Inuit (Alaska, Kanada und Grönland). Es handelt sich um so genannte polysynthetische Sprachen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine Unterscheidung zwischen Sätzen und einzelnen Wörtern kennen. Somit lassen sich komplexe Sachverhalte ausdrücken, indem verschiedene Satzteile zu einem sehr langen Wort zusammengesetzt werden. „Nerviger grauer Schneematsch, der am Straßenrand liegt“ wäre in diesen Sprachgemeinschaften somit ein Wort. Hinzu kommen Wörter, die vorwiegend für eine bestimmte Art von Schnee stehen, aber auch etwas anderes bedeuten. Zum Beispiel das Wort maujaq, das hauptsächlich „weichen Schnee auf dem Boden“ bezeichnet. Es kann ebenso eine andere Art von weichem Boden meinen. Ein Beispiel im Deutschen: Flocken fallen nicht nur an schönen Wintertagen vom Himmel, sie regnen auch aus der Müslipackung in unsere Frühstücksschüssel.
Die deutsche Sprache hat einiges zu bieten, wenn es darum geht, Schnee in allen möglichen Varianten zu beschreiben. Bekannte Beispiele sind Hagel, Frost, Lawine oder Raureif. Schnee-Connaiseure unterscheiden zudem zwischen weniger populären Formen wie Harsch (Eiskruste), Firn (Mindestens ein Jahr alter Schnee) oder Sulz (Schwerer, grober Schnee). Hinzu kommen noch Komposita, also zusammengesetzte Wörter wie Neuschnee, Pulverschnee oder eben Schneematsch. Selbst Blutschnee gibt es, ein von Algen rötlich gefärbter Schnee, den man in Hochgebirgen antrifft.
Im Deutschen können wir uns über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten freuen, die weiße Pracht in all ihren Varianten zu benennen. Das ist auch in der eskimo-aleutischen Sprachfamilie nicht anders.
Specher von Somali sollen übrigens 46 Wörter zur Auswahl haben, um sich über Kamele zu unterhalten. Die Albaner immerhin 27, um zwischen verschiedenen Formen von Schnurrbärten zu unterscheiden. Diese Sprachmythen sind bei weitem nicht so populär, wie der von dem ausgeprägten Schneevokabular der Eskimos – wahrer werden sie dadurch aber auch nicht. Die tatsächlichen Weltmeister im Schnee beschreiben sind übrigens die Isländer: Sie haben 16 unterschiedliche Wörter dafür.