Grammatik? Deine Mudda
Was es mit Kiezdeutsch auf sich hat. Ein Plädoyer für einen unterschätzten Dialekt.
“Isch bin Hermannstraße.”, schreit der Junge ins Handy. “Mussu nisch so stress machen, lan. Ja, wenn isch dir sag! S-Bahn hat Verspätung. Wallah!”
Solche Gespräche hat wohl jeder von uns schon mal mitgehört, der in einer größeren Stadt lebt. Ich habe lange an besagter Straße gewohnt und ja, auch die S-Bahn kam so gut wie immer zu spät – Solche mitgehörten Gesprächsfetzen prägten also meinen Alltag. Was in meinen Ohren vertraut und nach Zuhause klingt, wird in der öffentlichen Debatte häufig als fehlerhaftes Deutsch wahrgenommen. Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine oder die Welt sehen darin „Ein eigenartiges nicht Duden-kompatibles Gossen-Stakkato“ oder gar den “Verfall der deutschen Sprache”.
Kiezdeutsch entsteht dort, wo viele Kulturen aufeinander treffen
Ganz anders sieht das Heike Wiese, Professorin für Germanistik an der Universität Potsdam. Sie forscht seit Jahren auf dem Gebiet der Sozio-Linguistik und prägte den Begriff “Kiezdeutsch”: So wird eine vor allem von Jugendlichen gesprochene Ausprägung der deutschen Sprache genannt, die sich aus dem Kontakt von unterschiedlichen Sprachen und Kulturen entwickelt hat. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil wird diese Sprachform nicht nur von Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft verwendet – Auch viele deutsche Jugendliche sprechen Kiezdeutsch. Ähnliche Sprachformen gibt es übrigens auch in anderen europäischen Ländern wie Schweden, Dänemark oder der Niederlande. Man spricht von sogenannten Multi-Ethnolekten, da sich diese Sprachformen in Vierteln entwickelt haben, in denen viele Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinander treffen.
Das Standdardeutsche als Mittel zur Abgrenzung
Daher kommt auch die Geringschätzung für diese Form der Sprache: In Deutschland sind es vor allem sozial schwache Menschen, die in Stadtvierteln mit hohem Migrantenanteil leben. Und der Sprachgebrauch von sozial niedriger gestellten Menschen wird generell als negativ empfunden, wie Wiese betont. Sie attestiert den Deutschen eine besonders starke “ideologische Verbundenheit” mit dem Standarddeutschen. Diese Variante des Hochdeutschen, eine Mischung sächsischer Grammatik und niedersächsischer Aussprache, entwickelte sich Ende des 17. Jahrhunderts: Die Mittelschicht, die den Dialekt populär machte, wollte sich dadurch von weniger gebildeten Gruppen abgrenzen.
Was als Standard bzw. als annehmbare Abweichung gilt basiert laut Wiese auf einem Wertesystem – also auf einer von der Gesellschaft getroffenen Verabredung – weniger auf Fakten. Anders ist es nicht zu erklären, dass das Kiezdeutsch es so schwer hat, während regionale Dialekte weitgehend akzeptiert werden. Schließlich weichen diese doch ebenso vom Standarddeutschen ab. Kaum jemand würde aber einem Bayer, Hessen oder Berliner vorwerfen, er spreche kein richtiges Deutsch und wolle sich nicht integrieren.
Kiezdeutsch bereichert die deutsche Sprache
Das Kiezdeutsch, so Heike Wiese, verwässere und verfälsche die deutsche Sprache nicht, es bereichere sie und mache sie vielfältiger. Die Wissenschaftlerin möchte erreichen, dass Kiezdeutsch als neuer, eigener Dialekt anerkannt wird. Sie findet zahlreiche Beispiele für die Besonderheiten dieser Sprachform:
- Aussprache: “Isch hab disch gesehn” > Die Endung -ich wird zu -isch
- Zusammenziehungen: “Mussu aussteigen.”
- Weglassen von Artikeln oder Präpositionen: “Wir gehen Hermannplatz” / “Hast du Handy?” > Aber: “Wir gehen zu Mario.”
- Lehnwörter: “Wallah” (aus dem arabischen “bei Gott”) > Wird benutzt um etwas zu bekräftigen, in etwas wie “echt”. Steht immer am Anfang oder Ende eines Satzes.
Kiezdeutsch ist ein System mit Regeln, eigenen Wörtern, Wendungen und einer spezifischen Aussprache – Weist also alle Eigenschaften eines Dialekts auf. Die Geringschätzung für diese Sprachvariante erklärt Wiese damit, dass die Vorteile gegenüber den Sprechern auf die Sprache selbst geschoben werden. Auch dass es sich um eine Jugendsprache handele, verstärke diese Tendenzen: Schließlich sei die Kritik an Jugendsprache so alt wie die Kritik an Jugendkulturen insgesamt.
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Heike Wiese: “Kiezdeutsch: Ein neuer Dialekt entsteht”, Verlag. C. H. Beck, 280 Seiten, 12,95 €