Samthandschuhe der Sprache
Eine alte Frau schiebt sich mühsam durch die Gänge des Supermarkts. Sie schleicht an der Käsetheke vorbei, hin zur Fleischtheke, setzt sich ihre mit Fingerabdrücken versehene Brille auf und vergleicht langsam, sehr langsam, die Sonderangebote in der Wurstauslage. Dort steht Frau Schneider, so steht es jedenfalls auf ihrem Namensschild, und sieht ungeduldig drein. „Wat darfs denn Schönet sein, junge Frau?“ schallt es schließlich von hinter der Ladentheke. „Wow“, denke ich, „Ich wurde gerade Zeuge eines Euphemismus.“
Eu|phe|mis|mus: griechisch euphēmismós, zu: eúphēmos = Worte mit guter Vorbedeutung redend, zu: euphemeĩn = gut reden; Unangenehmes mit angenehmen Worten sagen, aus: eũ = gut, wohl und phemeĩn = reden, sagen
Ohne Euphemismen wäre die sprachliche Welt ganze sicher schwarz-weiß, denn sie (gemeinsam mit den Dysphemismen) ermöglichen sprachliche Schattierungen unterschiedlichster Art. Auch wenn das Thema Euphemismus ein Fass ohne Boden ist, kann man allgemein Folgendes sagen: Sie werden dann angewandt, wenn eine direkte Aussage kränkend wäre, gesellschaftliche Tabus brechen würde und/oder wenn eine direkte, unbeschöningende Aussage dem Sprecher schaden könnte. Daher findet man Euphemismen oft in den Bereichen zwischenmenschlicher Interaktion, Sexualität, Tod, Krankheit, aber auch Politik, Religion, Wirtschaft und in besonderem Maße Militärwesen.
Dabei bedient man sich entweder Umschreibungen, Untertreibungen oder drastischen Steigerungen: Ein starker Trinker schaut gerne mal zu tief ins Glas, der vollschlanke Raumpfleger ist gerade zum Facility Manager befördert geworden. Tante Heike ist nach schwerer Krankheit letztes Jahr sanft entschlafen – sie hat das Zeitliche gesegnet. Die Kampftruppen rechneten mit Kollateralschäden, als die den Feind neutralisierten und der stets transpirierende Nachbar, der sich gerne im Adamskostüm im Treppenhaus zeigt, musste sich gestern schließlich in eine Heilanstalt begeben.
Es existieren auch Euphemismen auf grammatikalischer Ebene. Das Verwandeln von Aktiv- in Passivformen ist beispielsweise beliebt, wenn man sich von etwas distanzieren möchte. So steckt auch in diesem Satz ein Euphemismus – wer jemals eine wissenschaftliche Arbeit schreiben musste, erkennt diese Strategie sicher sofort: „Es muss allerdings gesagt werden, dass der analytische Teil nicht ganz gelungen ist. In einer weiterführenden Untersuchung wird dies erst aufgezeigt werden müssen…“ Andere verstecken sich gerne hinter einem „wir“, um z.B. einer Entscheidung an Gewicht zu geben.
Ersetzt man ein ursprünglich gängiges Wort übrigens permanent mit einem beschönigenden Wort, so kann es passieren, dass sich diese Bezeichnung schließlich durchsetzt und das ersetzte Wort ausstirbt. Das ist in Deutschland insbesondere bei Wörtern mit „politisch inkorrekten“ Wortbestandteilen zu beobachten, wie beispielsweise beim Negerkuss. Ersetzt wird er in der Alltagssprache inzwischen bekanntlich durch Schaumkuss. Erst vor Kurzem gelangte das Zigeunerschnitzel in den Fokus der Öffentlichkeit – man wird abwarten, ob sich auch hier ein Euphemismus dauerhaft durchsetzen kann. In der deutschen Verwaltungssprache wird in diesem Zusammenhang übrigens gerne MEM verwendet – es steht für Mobile Ethnische Minderheit.